Hannappel/Dreßler: Leitfaden Bürgerbegehren, Vertreterbegehren und Bürgerentscheid im Lande Hessen - Ausgabe 2021
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Wolfgang Hannappel und ich glauben, dass die Zusammenarbeit zwischen einem Kommunalrechts-Experten und einem Fachmann für das Wahlrecht ideal ist für die Darstellung des zweistufigen Verfahrens. Denn dieses wird nicht nur mit zwei Begriffen "Begehren" und "Entscheid" gekennzeichnet. Es ist auch in zwei Gesetzen (HGO und KWG) geregelt. Entsprechend sind die Zuständigkeiten im Hessischen Innenministerium verteilt. Im Jahr 2020 wurde es Zeit, eine Neuauflage des Werkes in Angriff zu nehmen. Denn der Landtag hat im Mai des Jahres durch eine Ergänzung des § 8b Abs. 2 Nr. 4 HGO den Bürgerentscheid zu der kommunalpolitisch besonders heftig diskutierten Frage „Wiederkehrender statt einmaliger Straßenbeitrag“ gesetzlich ausdrücklich erlaubt. Wir sind froh, dass wir nunmehr gleich zu Beginn des Jahres 2021 die insgesamt 5., vollständig aktualisierte Auflage des Leitfadens anbieten können. Wir plädieren für eine andere Sichtweise auf den Bürgerentscheid. Eine solche direktdemokratische Abstimmung über eine Sachfrage kann auch eine Chance für eine Gemeinde und ihre Selbstverwaltung sein und muss keine Bedrohung darstellen. Daher müssen und sollten Bürgerbegehrens-Initiativen auch nicht als "mit allen Mitteln zu bekämpfende" Gegner angesehen werden. Lesen Sie dazu Näheres in dem von mir verfassten Vorwort vom Januar 2021. Der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier brachte es in seiner Gruß-/Videobotschaft im Vorfeld des Bürgerentscheids in der mittelhessischen Stadt Pohlheim (Landkreis Gießen) am 19.8.2018 auf den Punkt: "...Wenn die Dinge so unterschiedlich gesehen werden, ist es nicht schlecht, wenn die Bürger unmittelbar zum Ausdruck bringen, was sie für richtig halten."
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Die
Neuauflage ist vor allem durch eine im Jahr 2020 vorgenommene Ergänzung des § 8b
in Abs. 2 Nr. 4 HGO nötig geworden.
Hintergrund: In der Gemeinde Hohenroda (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) wurde im Juni
2017 ein Bürgerbegehren zur Einführung des „wiederkehrenden“ (anstelle des
einmaligen) Straßenbeitrags gem. § 8b Abs. 2 Nr. 4 HGO als unzulässig abgelehnt,
da es das Tabuthema "Abgaben" betreffe. Basis dieses Beschlusses war ein
Gutachten des HSGB. Ich war anderer Auffassung: Die Aufnahme des
Begriffes „Abgaben“ in den Negativkatalog (§ 8b Abs. 2 Nr. 4 HGO) beruhte auf
der Erwägung, dass die Gemeinde vor einem Einbruch bzw. gar vor einem Wegfall
ihrer Einnahmen geschützt werden muss. Darum geht es hier aber gerade nicht; die
Option, den Straßenbeitrag wiederkehrend statt einmalig auszugestalten, wird den
Gemeinden ja in § 11a KAG ausdrücklich eingeräumt. Für die Einnahmen-Seite der
Gemeinde ist es (auch nach Ansicht des HSGB) ohne Belang, welcher Erhebungsmodus
letztlich zur Anwendung kommt. Der Begriff der "Abgaben" muss dem Sinn und Zweck
der Ausnahme-Vorschrift entsprechend eng ausgelegt werden. In den rheinland-pfälzischen Gemeinden Lehmen, Hilgert
und St. Johann sowie in der bayerischen Gemeinde Scheuring wurden denn auch
entsprechende Bürgerentscheide bereits durchgeführt. Leider war der HSGB auch
nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes "Kann die
Auswahl zwischen dem einmaligen und dem wiederkehrenden Straßenbeitrag per
Bürgerentscheid getroffen werden? im Oktober 2018 nicht zu einem Einlenken
bereit. Der Hessische Landtag hat nun im Rahmen der Kommunalrechts-Novelle vom Mai 2020 in § 8b
Abs. 2 Nr. 4 HGO eine bürgerfreundliche Klarstellung eingefügt. Eine große
Praxisrelevanz wird die Novelle des § 8b HGO trotz dieser Vorgeschichte dennoch
wohl nicht entfalten, denn der Gesetzgeber hat den Gemeinden bereits im Jahr
2018 auch erlaubt, auf
die Finanzierung der Straßensanierung per Beitrag gänzlich zu verzichten (§ 93
Abs. 2 Satz 2 HGO).
Der HSGB hat sein
tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem Bürgerentscheid als direktdemokratischer
Entscheidungsform in Sachfragen leider seit der Einführung 1992 nicht abgelegt.
Das zeigte sich besonders
deutlich im Jahr 2015, als sich der Spitzenverband sogar vehement gegen das
Vertreterhebegehren aussprach, mit dem die Gemeindeparlamente
einen
Bürgerentscheid von sich aus initiieren können. Das seit dem Jahr 2016
anwendbare Vertreterbegehren hat in der kommunalen Praxis seit 2016 gleichwohl kontinuierlich an Bedeutung
gewonnen, wie Sie
der offiziellen Statistik des Hessischen Statistischen Landesamts über alle
Bürgerentscheide seit dem Mai 1993 entnehmen können:
https://statistik.hessen.de/zahlen-fakten/wahlen/buergerentscheide
Für viele Gemeindevertreter wird auch interessant sein, dass sie mit dem Vertreterbegehren in vielen Fällen ein formell unzulässiges Bürgerbegehren „heilen“ und so einen allseits erwünschten Bürgerentscheid doch noch „auf die Rolle“ bringen können (heilendes Vertreterbegehren). In Schwalbach am Taunus hat die Stadtverordnetenversammlung am 9.11.2017 einen Bürgerentscheid ermöglicht, obwohl bzw. nachdem das Bürgerbegehren unter einem unzureichenden Kostendeckungsvorschlag litt. Die Mandatsträger haben die von dem Bürgerbehren vorgeschlagene Frage für ein eigenes Vertreterbegehren übernommen. Dementsprechend fand erstmals in Hessen am 4.3.2018 ein Bürgerentscheid auf Grund eines heilenden Vertreterbegehrens statt.
Gleich zweimal musste sich das Innenministerium im vergangenen Jahr 2020 zur Zulässigkeit von reichlich langen und "überladenen" Fragestellungen beim Vertreterbegehren äußern. Einmal zur Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Wiesbaden (City-Bahn) und dann noch zur Gemeindevertretung der waldreichen Gemeinde Heidenrod (Holzkohlefabrik). Der Ausgang der beiden Bürgerentscheide zeigt: Fragestellungen, die die Bürger zum Kreuz an der richtigen Stelle hinführen sollen, mögen (noch) zulässig sein, können aber bei den Bürgerinnen und Bürgern Widerwillen erzeugen und "nach hinten losgehen".
Zum Vertreterbegehren habe ich auch den Aufsatz "Das Vertreterbegehren - Herzstück der Bürgerbeteiligungsnovelle vom 20. Dezember 2015 verfasst. Dieser Aufsatz ist quasi ein Seiten-Projekt meiner Arbeit an dem o.a. Leitfaden. Er enthält all das, was ich zu dem Thema weiß, aber in dem streng praxisorientierten Leitfaden nicht unterbringen konnte.
In Hessen sind die formalen Anforderungen an das Bürgerbegehren vergleichsweise sehr hoch.
In der Praxis bereitet insbesondere der Kostendeckungsvorschlag vielen Bürgerinitiativen erhebliche Probleme. In vielen Fällen kommt der regelmäßig zur Begutachtung angerufene Hessische Städte- und Gemeindebund zu dem Ergebnis: unzulässig. Den Gemeindevertretern bleibt dann gemeiner Hand nichts anderes übrig, als den Daumen zu senken - oftmals zu ihrem Leidwesen, denn sie möchten eigentlich mit einer "Volksabstimmung" in ihrer Gemeinde die Angelegenheit (endgültig) befrieden.
Ein Beispiel ist das Ende 2016 in der Gemeinde Schöneck (Main-Kinzig-Kreis) zurückgewiesene Bürgerbegehren gegen den Verkauf des „Alten Schlosses Büdesheim“. Der HSGB hielt den Kostendeckungsvorschlag für unzureichend und hat der Bürgermeisterin laut Presseberichten sogar mitgeteilt, dass sie im Falle eines stattgebenden Beschluss der Gemeindevertretung Widerspruch einlegen müsse. Was so nicht stimmt: Widerspruch nach § 63 HGO muss ein Bürgermeister nur dann einlegen, wenn er persönlich von der Rechtswidrigkeit des Beschlusses überzeugt ist.
Die früher
durchaus bürgerfreundliche Rechtsprechung des Hess. VGH tendiert in der
jüngeren Vergangenheit ebenfalls stark in Richtung „Unzulässig“. Alle
VGH-Entscheidungen zu § 8b HGO werden in unserem Buch mit Leitsätzen und
Fundstellen zitiert; nur einige wenige Urteile bzw. Beschlüsse sind (im
Volltext) weder im Internet noch
in der Rechtsliteratur veröffentlicht.
Kritik findet insbesondere die Tendenz, Bürgerbegehren gegen
den Verkauf öffentlicher Einrichtungen als nicht mehr fristgerecht und
daher unzulässig zu erklären, indem man sich ältere Beschlüsse der
Gemeindevertretung zu diesem Thema entsprechend „zurechtbiegt“. Bei dem
Teilverkauf der Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken in der Landeshauptstadt Wiesbaden
fand z.B. der VGH-Beschluss vom 28.3.2012 nicht nur den Widerspruch des
ehemaligen OB Achim Exner sowie der örtlichen Grünen, sondern auch –
ungewöhnlich genug – der ersten Instanz, also des VG Wiesbaden!
Professor Dr.
Friedrich Schoch von der Universität Freiburg zog bereits im November 2014 in
seinem Aufsatz "Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Spiegel der
Rechtsprechung" folgendes Fazit: "Die Rechtsprechung einiger
Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe bleibt aufgerufen, Elementen
unmittelbarer Demokratie aufgeschlossener zu begegnen. Vor zehn Jahren ist
konstatiert worden, dass viele Verwaltungsgerichte außerhalb Bayerns in der
Entscheidung durch die Bürger eher den irregulären Sonderfall sehen. Es ist an
der Zeit, dass eine solche Sicht der Dinge überwunden wird" (NVwZ 2014 S. 1473,
1482).
Unsere
Nachbarländer sind bei diesen beiden Streitthemen schon weiter. Damit meine ich nicht nur den Freistaat
Bayern:
Knapp 40 Prozent aller Bürgerbegehren in Deutschland gab es seit 1995 in Bayern.
Anlässlich "25 Jahre Bürgerentscheid
in Bayern konstatierte Mehr Demokratie Bayern e.V.: "Knapp 2.000
Bürgerentscheide zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger bestimmt nicht
politikverdrossen sind". Die Bayerische Staatszeitung meinte nüchtern: "Der
mündige Bayer". Der
Innenminister skizzierte bereits am 13.7.2017 die bayerische Grundeinstellung
zur sachunmittelbaren Demokratie auf Gemeindeebene wie folgt:
Unsere Erfahrung ist, dass Elemente der direkten Demokratie die Kommunalpolitik
bürgernäher machen und beleben. Das schafft mehr Akzeptanz für Entscheidungen“.
Auch in Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen wurde vor einigen
Jahren nach
bayerischem Vorbild das Erfordernis des Kostendeckungsvorschlags abgeschafft.
Auch in Nordrhein-Westfalen müssen nicht die Initiativen einen
Kostendeckungsvorschlag, sondern die Verwaltung eine Kostenschätzung liefern.
Schleswig-Holstein verzichtetet seit kurzem auf die Einhaltung einer
Einreichungsfrist beim kassatorischen Bürgerbegehren, nach bayerischem
Beispiel. Die Begründung für dieses Entgegenkommen lautet sinngemäß wie folgt:
Wenn die Gemeindevertreter berechtigt sind, ihre Entscheidungen jederzeit wieder
aufzuheben, solange noch keine unwiderruflichen Fakten geschaffen wurden, dann
müssen dies auch die Bürger sein, die ihre Vertreter im Gemeindeparlament
gewählt und damit überhaupt erst zu ihren Entscheidungen ermächtigt haben. Ich
bin sehr froh, dass das pedantische Bestehen auf die Einreichungsfrist trotz
der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 in der südhessischen Stadt Bensheim -
gestützt auf entsprechende Gutachten der beiden Gemeinde-Spitzenverbände, aber
gegen den Ratschlag des Hessischen Innenministeriums - vom
Verwaltungsgericht Darmstadt zurückgewiesen wurde. (Vgl. auch das
Urteil des VerfGH Ba-Wü vom 9.11.2020 zum Bestreben kleiner, bisher nicht im
Landtag vertretenen Parteien, die Zahl der beizubringenden
Unterstützungsunterschriften für die Landtagswahl am 14.3.2021 in Ansehung der
Pandemie zu reduzieren).
In der Hessischen Landespolitik hatten
sich
viele Anhänger der sachunmittelbaren Demokratie im Rahmen der
Bürgerbeteiligungsnovelle 2015 von Schwarz/Grün effektive Erleichterungen versprochen.
Schließlich hatte die CDU bereits 1952 einen Entwurf zur Einführung von
Bürgerbegehren und Vertreterbegehren sowie (sogar) des obligatorischen
Bürgerentscheids bei Eingemeindungen formuliert. Die Grünen hatten schon
1986 erstmals einen Gesetzentwurf zur Einführung des § 8b HGO in den Landtag
eingebracht. Doch die Fraktionen im Hessischen Landtag streiten seit dem Jahr
2000 vornehmlich um die Quoren bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid;
eine Übersicht über den Kampf um die
Quoren im Hessischen Landtag von 2000 bis 2015 stelle ich hier sozusagen
als Anhang zum Buch zur Verfügung.
Wie ein Bürgerbegehren
in Hessen trotz alledem rechtssicher
gestaltet werden kann, das war schon immer ein thematischer Schwerpunkt des
Buches. Der Leitfaden enthält daher auch weiterhin ein Antragsmuster für ein
kassatorisches Bürgerbegehren, was für Bürgerinitiativen natürlich von
besonderem Interesse ist.
Dabei handelt es aber nicht nur ein Problem
von Bürgerinitiativen: die Gemeindeverwaltung muss auf Wunsch über den Inhalt
(und den Sinn) der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften unterrichten (§
8b Abs. 2 Satz 5 HGO)! Der Leitfaden gehört daher in jede hessische
Gemeindeverwaltung.
Kommt es in einer Gemeinde zum Bürgerentscheid, so wird die betroffene Gemeinde nicht nur für die diesbezüglichen Erläuterungen, sondern auch für den Abdruck der einschlägigen Vordruckmuster des Hessischen Innenministeriums dankbar sein. Auch die relevanten Normen aus HGO, KWG und KWO sind werden in unserem Buch wiedergegeben.
Wichtig ist es auch, wie es
weitergeht, wenn das Bürgerbegehren für unzulässig erklärt wird.
Etwas skurril ist
in disem Zusammenhang
der Beschluss des Hess. VGH vom 30.11.2015, wo die Abkehr von der ständigen
(mehr als 15 Jahre lang praktizierten) Rechtsprechung des Hess. VGH, dass
nämlich bei einer Unzulässig-Erklärung die Feststellungsklage die richtige
Klageart sei, in gerade einmal drei (!) Sätzen begründet wird. Die nunmehr
für richtig gehaltene Verpflichtungsklage machte es wegen der
Erforderlichkeit eines Vorverfahrens nicht nur den
Bürgerinitiativen, sondern auch den Gemeindeverwaltungen unnötig schwer. Der
Gesetzgeber musste das Hess. Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
ändern, um das
Widerspruchsverfahren in diesem Fall (wieder) auszuschließen.
Ob diesem Wechsel der Klageart eine lange Haltbarkeit beschieden sein wird, darf
im Übrigen stark bezweifelt werden. Das
BVerfG hat mit Beschluss vom 22.2.2019 (Az. 2 BvR 2203/18) entschieden, dass
die Vertrauenspersonen eines Bürgerbegehrens eine organschaftliche Funktion
wahrnehmen und die Verletzung der mit dem Bürgerbegehren verbundenen Kompetenzen
als „Organ“ der Gemeinde geltend machen. Insoweit handelt es sich lt. BVerfG um
eine kommunalverfassungsrechtliche Streitigkeit, die Vertrauenspersonen machen
nicht die Beeinträchtigung von ihnen als natürliche Personen zustehenden Rechten
geltend und fallen nicht in den Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG.
Mein Fazit: Alle Gemeindeverwaltungen, alle Kommunalpolitiker und alle kommunalpolitisch interessierten Bürgerinnen und Bürger sollten über den Bürgerentscheid und die beiden Initiierungs-Alternativen Bescheid wissen.
Das Buch ist nicht
ISBN-gebunden und daher nicht über den Buchhandel erhältlich.
Bestellungen sind aber jederzeit auch für einzelne Personen oder
Bürgerinitiativen möglich über eine Kontaktaufnahme mit dem Außendienst des
Verlags, schriftlich, per Mail oder telefonisch
(vgl.
Bestellschein zu den Angeboten des Verlags betr. Bürgerentscheid in
Hessen).
Das Buch unterliegt nicht der Buchpreisbindung.
© Ulrich Dressler, 22.02.2021