Das Buch „Direkte
Demokratie in den deutschen Ländern“ ist ein Gemeinschaftswerk mehrerer
Zentralen für politische Bildung. Es ist im April 2005 im
Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) erschienen und kostet im
Buchhandel 19,90 Euro. Es ist seit Juni 2005 aber auch (zumindest) über die
Landeszentrale für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen erhältlich.
Die Krise der Parteiendemokratie in Deutschland – mittlerweile mehr als ein geflügeltes Wort. Ihre Existenz lässt sich nicht (länger) leugnen, die Bestandsaufnahme ist eindeutig. Jedoch: die Politik scheint unfähig, die Lähmung unseres politischen Systems zu heilen, und ihr scheint gar nicht bewusst zu sein, wie fatal die Signalwirkung auf die Bevölkerung ist, die z. B. vom Scheitern der Verfassungsreform auf Bundesebene im Dezember 2004 (Föderalismuskommission) ausgeht. Jüngst war in einer Veröffentlichung zu lesen, Politiker hätten in ihrem genetischen Code ein „Macht-Gen“, das, wenn es um ihre berufliche Existenz gehe, alle anderen Erwägungen zurücktreten lasse (von Arnim, „Die Mär vom Landtagsmandat als Fulltimejob“, in ZRP 2005 S. 78). Wenn aber die Berufspolitiker tatsächlich nicht in der Lage sein sollten, z. B. die Zahl der Bundesländer und die Zahl der Abgeordnetenmandate zu verringern, braucht dann unser demokratischer Staat zu seiner eigenen Sicherung Entwicklungsanstöße unmittelbar durch das Volk?
Die Vorbehalte gegen jedwede Form der Mitbestimmung des Volkes auf Bundesebene sind enorm. Die Absage der Parteien an eine Volksabstimmung in Deutschland über die Europäische Verfassung hat es wieder einmal gezeigt. Das Misstrauen gegenüber dem Volk ist in Deutschland ganz besonders ausgeprägt (und dürfte durch den Ausgang der Referenden zur Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden Ende Mai 2005 noch größer geworden sein). So hat man in Deutschland noch nicht einmal den Mut gehabt, dem Volk eine bundeseinheitliche Verfassung vorzulegen, über die es „in freier Entscheidung beschließen“ kann, und begnügt sich stattdessen weiter mit dem Grundgesetz, dass von seinen Müttern und Vätern ausdrücklich nur als „Übergangslösung“ bis zur Wiedervereinigung konzipiert war (Art. 146 GG). Auch die Hauptstadtfrage hat man lieber ohne das Volk durch Mehrheitsentscheidung im Bundestag geklärt („Koalition der alten Männer mit der PDS“). Und da wundern sich manche Politiker über zu wenig „gelebte Liebe zum Vaterland“!
Höchste Zeit also für eine Bestandsaufnahme zur Direkten Demokratie in den deutschen Ländern und ihren Gemeinden. Als Reaktion auf das wachsende politische Selbstbewusstsein der Bürger gibt es mittlerweile in zahlreichen Bundesländern unmittelbare Partizipationsrechte der Bürger. Andreas Kost liefert jetzt mit der Neuerscheinung „Direkte Demokratie in den deutschen Ländern“ erstmals eine umfassende Gesamtübersicht dazu. Das Buch bietet die erste systematische Darstellung direktdemokratischer Beteiligungsverfahren in allen 16 Bundesländern durch „einheimische“ Experten. Anknüpfend an die 16 Länderbeiträge fasst Ottmar Jung in einem Überblicksartikel Grundsatzfragen direkter Demokratie zusammen. Übersichten über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Volksentscheid/Volksbegehren sowie Bürgerentscheid/Bürgerbegehren verdeutlichen die Unterschiede zwischen den Bundesländern. Ein abschließendes Glossar erleichtert das Verständnis der einschlägigen Fachbegriffe.
Lesen Sie hier das
Inhaltsverzeichnis (über deutschesfachbuch.de)
Informieren Sie
sich über die beteiligten
Autoren (über deutschesfachbuch.de)
Lesen Sie hier
die
Einleitung
von Andreas Kost
(über deutschesfachbuch.de)
Thorsten Sterk
von „Mehr Demokratie“ hat unmittelbar nach Veröffentlichung des Buches eine sehr
interessante
Rezension geschrieben.
Für Nordrhein-Westfalen kommt Andreas Kost in dem entsprechenden Kapitel
zu dem Schluss, dass die Anwendung und Einführung verschiedener
Partizipationsinstrumente die politische Szene durchaus belebt hat. "Insgesamt
wurden direktdemokratische Partizipationsinstrumente in Ländern und Kommunen
sehr dosiert angewendet. Hin und wieder erinnert diese Form der unmittelbaren
Bürgerbeteiligung die politischen Verantwortlichen jedoch daran, dass auch ihre
Handlungssouveränität inhaltlich und zeitlich begrenzt ist. Der Bürger hat eine
neue Einflussmöglichkeit gegen eventuelle Uneinsichtigkeit und Ignoranz
gewonnen."
Allerdings konnte sich durch die eingebauten institutionellen Hürden kein
wirklich starkes Gegengewicht zum Landtag oder den kommunalen Vertretungen
bilden. Eine systematische Machtkontrolle durch den Bürger ist bislang nicht
möglich. Wenn die politisch Verantwortlichen hier zusätzliche
Handlungsspielräume eröffnen würden, was sich andeutet, sieht Kost die Chance
auf eine vermehrte bürgerschaftliche Mitarbeit. Das verloren gegangene Vertrauen
in die Politik könnte so zurück gewonnen werden.
Die
Die Kluft zwischen Gewählten
und Wählern ist neuerdings - was die Landesparlamentarier
in Hamburg und vor allem die Bundesparlamentarier im
Bundestag angeht - etwas kleiner geworden. Besuchen sie
die virtuelle - öffentlich einsehbare - Sprechstunde dieser Abgeordneten unter
www.abgeordnetenwatch.de. Dort
werden auch die Ausschussmitgliedschaften sowie das Stimmverhalten der
Mandatsträger dokumentiert.
In dem Buch „Direkte Demokratie in den deutschen Ländern“ zeichne ich für den Beitrag „Direkte Demokratie in Hessen“ (S. 133 bis S. 147) verantwortlich.
Weil das Buch mittlerweile zumindest bei der HLZ vergriffen
ist, biete ich hier meinen Beitrag "Direkte
Demokratie in Hessen" zum freien Download an.
Ich habe meiner Darstellung folgende Gliederung vorangestellt:
1. Einleitung und historische Entwicklung
2. Direkte Demokratie auf der Ebene des Landes
2.1 ... im Zusammenhang mit der Hessischen Verfassung
2.2 ... im Zusammenhang mit (einfachen) Gesetzes
3. Direkte Demokratie auf der Ebene der Gemeinden
4. Literatur und Internethinweise.
Hauptergebnis meiner Untersuchung ist, dass Hessen auf der Gemeinde-Ebene mit dem Bürgerentscheid durchaus vorn, dagegen auf der Landesebene mit dem Volksentscheid ganz weit hinten ist. Dementsprechend hat Hessen im dritten „Demokratie-Vergleich“ der deutschen Länder (Volksentscheidsranking) des Vereins Mehr Demokratie e. V. aus dem Jahr 2010 für die Ausgestaltung der direkten Demokratie auf der staatlichen Ebene ein „Mangelhaft“ erhalten. Wie kommt es, dass Hessen im Ländervergleich - ganz im Gegensatz zu seinem herkömmlichen eigenen Anspruch („Hessen vorn“) - so weit „hinten ist“? Während der Landtag in den Gemeinden 1993 mit der Einführung des 8b HGO die Entwicklung vom Bürgerbegehren zur Bürgergesellschaft eingeleitet hat, gaukeln Art. 123 HVerf. und Art. 124 HVerf. wegen des Ausschlusses des Volksbegehrens für Änderungen der Verfassung selbst und des schier unüberwindlichen 20% Unterschriftenquorums für ein erfolgreiches Volksbegehren eine Mitbestimmung des Volkes in Sachfragen der Landespolitik nur vor.
Zur Verdeutlichung: 20%, das sind rund
878.000 (stimmberechtigte) Bürgerinnen und Bürger – wie schwer es ist, so viele
Menschen für eine politische Idee zu begeistern, lässt sich ermessen, wenn man
sich vergegenwärtigt, wieviele (Zweit-)Stimmen die Parteien bei den hessischen
Landtagswahlen erringen. Bei der letzten Landtagswahl
im September 2013 hat die
SPD als zweitstärkste Fraktion im Landtag z. B. gerade einmal
rd. 962.000 Stimmen
erhalten! Auch die CDU als stärkste Fraktion hat gerade einmal 1,2 Million Stimmen
errungen!
Aber dieses Quorum hat in der Praxis bisher kaum eine Rolle gespielt, denn denn
der Hessische Landtag hat einfachgesetzlich noch eine weitere Hürde aufgestellt,
an der die meisten Initiativen schon scheitern, die Zulassungshürde. Nach
dem hessischen
Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid
muss ein Volksbegehren erst einmal von der Landesregierung zugelassen werden,
bevor es an den Start gehen kann. Und dafür müssen erst einmal die
Unterschriften; von 3%, seit 2011 von 2% der abstimmungsberechtigten Hessinnen
und Hessen eingesammelt werden. Schon an diesem Zulassungsquorum sind fast alle
Initiativen gescheitert, z.B. im Jahr 1992 die FDP-Initiative "Kumulieren
und Panaschieren" (vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters v. 17.9.1992 in
StAnz. S. 2558); es kam erst gar nicht zur Abgabe der eingesammelten
Unterschriften; das Kumulieren und Panaschieren bei der Wahl der
Kommunalparlamente wurde dann 1999 nach dem Regierungswechsel von Rot/Grün zu
Schwarz/Gelb eingeführt. Zur Abgabe der eingesammelten Unterschriften zwecks
Zulassung des Volksbegehrens ist es in der Geschichte des Landes Hessen erst
drei Mal gekommen. Außer in den beiden unten dargestellten Fällen aus den Jahren
1966 und 1981 noch im Jahr 1997; es ging um die
Initiative der Evangelischen Kirche zur Rettung des Buß- und Bettages als Feiertag.
Die abgegebenen Stimmen reichten nicht aus (vgl.
Bekanntmachung des Landeswahlleiters v. 27.8.1998 in StAnz. 1998 S. 2198).
Genug Stimmen zur Überwindung des Zulassungsquorums wurden in der Geschichte des Landes Hessen erst zwei Mal abgegeben:
1966 initiierte die CDU das
Volksbegehren "Briefwahl" auch in Hessen". Bei den Wahlen zum
Deutschen Bundestag war die Briefwahl bereits seit 1957 zugelassen, ebenso In allen anderen (westlichen)
Bundesländern bei der Landtagswahl. Aber die hessische SPD lehnte dies wegen der Gefährdung des
Wahlgeheimnisses zum
wiederholten Mal ab. Die Landesregierung ließ in Anbetracht
von mehr als 133.000 eingesammelten Unterschriften dieses Volksbegehren am
2.9.1966 zu (vgl. StAnz. S. 1160).
Dieses einzige in Hessen jemals zugelassene Volksbegehren
in Hessen scheiterte dann erwartungsgemäß an dem 20% Unterschriften-Quorum, zumal diese
Unterschriften nach dem Ausführungsgesetz zu
Art. 124 Abs. 4 HVerf., dem
Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid, nicht frei gesammelt werden
durften, sondern – innerhalb von nur 14 Tagen vom 3.10.1966 bis zum 16.10.1966 – in behördlichen Amtsräumen
abgegeben werden mussten! Im Ergebnis stellte die Landesregierung am 14.11.1966
fest, dass sich nur 6,87% der Stimmberechtigten in die zugelassenen Listen
eingetragen hatten (vgl. StAnz. 1966 S. 1473 und S. 1483).
Wegen des
Scheiterns dieses Volksbegehrens gab es bei der anstehenden Landtagswahl am
6.11.1966 keine Briefwahl. Stattdessen wurde den Bürgerinnen und Bürgern, die am
Wahltag verhindert waren, die sog. Voraus-Wahl angeboten. Aber schon bald
knickte die SPD ein. Bereits bei der nächsten Landtagswahl, am 8.11.1970, wurde
die Briefwahl zugelassen. Ihre Premiere hatte die Briefwahl in Hessen - von
Bundestagswahlen abgesehen - schon am 8.3.1970, bei der Volksabstimmung
über Art. 73 Abs. 1 HVerf., die Herabsetzung des aktiven Wahlalters (bei
Landtagswahlen) auf 18, und über Art. 75 Abs. 2 HVerf., die Herabsetzung des
Wählbarkeitsalters auf 21.
1981 wurde dem Volksbegehren "Keine Startbahn
West" die Zulassung versagt, obwohl mehr als 220.000 Bürgerinnen und Bürger
unterschrieben hatten (und rund 120.000
zur
Übergabe der Unterschriften nach Wiesbaden kamen), weil das beantragte Gesetz
nicht vom Land erlassen werden könne, es vielmehr in die ausschließliche
Gesetzgebungskompetenz des Bundes eingreife (vgl.
StGH, B. v. 15.1.1982 in StAnz. S. 240 sowie
BVerfG B.
v. 24.3.1982 in E 60 S. 175). Schade, man war offenbar noch nicht so weit
wie die baden-württembergische Landesregierung, die 30 Jahre später die
Bürgerinnen und Bürger zu Stuttgart 21 abstimmen ließ und so eine
gleichermaßen aufgeheizten Atmosphäre mit der Befriedungswirkung der
sachunmittelbaren Demokratie "abkühlte". Die Auseinandersetzungen um die
Startbahn
West dagegen eskalierten bekanntlich bis hin zu tödlichen Schüssen auf
Polizeibeamte und dem Strafurteil gegen die Vertrauensperson Nr.1 der
Volksbegehrens-Initiative, den Frankfurter Magistratsdirektor
Alexander Schubart. Etliche meiner Schulkameraden wurden nach der Mittleren
Reife vom Land Hessen für die hessische Polizei "geworben". Die FNP hat am
12.4.2014 aus Anlass des 30jährigen Bestehen der Startbahn West den damaligen
Widerstand dokumentiert und auch eine informative Bilderstrecke beigefügt ("Gesichter
des Widerstands").
Rückblickend ist die Eskalation umso bedauerlicher,
weil man heute natürlich weiß, dass der Bau einer dritten Bahn im nahezu rechten
Winkel zu den beiden schon vorhandenen Start- und Landebahnen und dann auch nur
zum Starten von Flugzeugen nicht der "Bringer" war. Schon 1997, also
nur 13 Jahre nach der Eröffnung der Startbahn West, riefen Fraport
und Lufthansa nach einer weiteren
Start- und Landebahn "Nord-West", die schließlich von der schwarz-gelben Landesregierung
Koch/Hahn durchgesetzt wurde und 2011 ihren
Betrieb aufnahm.
Vergeblich wiesen viele Kläger auf die Ausführungen des Hess.
Wirtschaftsministeriums in Planfeststellungsbeschluss vom 23.3.1971 für
die Startbahn West hin:
"Die Befürchtung, dass später eine weitere Start- oder Landebahn ...
errichtet werden könnte, entbehren jeder Grundlage. Die Genehmigung einer
solchen Maßnahme wird auf keinen Fall erteilt."
Immerhin war der Aspekt des enttäuschten Vertrauens auf die o.a. Aussage in
dem Planfeststellungsbeschluss vom 23.3.1971 aber für den
Hess. VGH in seinem Urteil vom 21.8.2009 über die neue Start- und Landebahn
Nord-West ein Argument für die Nachforderung eines generellen
Nachtflugverbots (vgl. Rdnr. 743 des amtlichen Urteilsabdrucks). Im
Planfeststellungsbeschluss des Wirtschaftsministers Posch (FDP) vom 18.12.2007
waren 17 planmäßige Flüge in der Zeit zwischen 23 Uhr und 5 Uhr vorgesehen. Die
Landesregierung wollte diese nachträgliche Einschränkung des Luftverkehrs durch
den VGH nicht
akzeptieren und ging in die Revision, die jedoch vom
BVerwG mit
Urteil vom 4.4.2012 zurückgewiesen wurde. Die SPD veröffentlichte im
September 2009 eine
"Dokumentation des Wortbruchs von CDU und FDP beim Nachtflugverbot".
Einen Volksentscheid hat es nach alledem in Hessen noch nie gegeben!
Bei Beibehaltung des gegenwärtigen Rechts wird es nach menschlichem Ermessen auch nie dazu kommen, dass das Volk in Hessen ein (neues) Landesgesetz beschließt oder ein (bestehendes) Landesgesetz ändert bzw. aufhebt.
Insbesondere
das 20%-Quorum ist unüberwindbar. Der höchste Beteiligungswert für ein
Volksbegehren, das anschließend zum Volksentscheid führte, betrug 18,4%, und das
in dem Stadtstaat Hamburg (1998 „Reform der Volksgesetzgebung“).
In Bayern reichten dagegen für
ein erfolgreiches Volksbegehren beispielsweise im Jahr 2010 die
Unterschriften von 13,9% gegen das (gelockerte) Nichtraucherschutzgesetz und im
Jahr 2013 von 14,4% gegen das Universitätsgebühren-Gesetz aus.
Über die "Direkte Demokratie in Hessen" habe
ich bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion am 23.2.2006 in den Räumen der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in Wiesbaden mit dem Journalisten Bernd Heptner von der FAZ diskutiert. Die Veranstaltung fand statt in der Reihe "Literatur und Politik", in der die HLZ dem interessierten Publikum nach dem Arbeitsalltag in ungezwungener Atmosphäre aktuelle Neuerscheinungen samt den verantwortlich zeichnenden Autoren vorstellt. |
Über die nach der Veröffentlichung des Buches seit 2005 - bisher vergeblich - unternommenen Versuche zur Reform der Hessischen Verfassung können Sie sich ebenfalls hier bei mir informieren:
Über die Versuche in den Jahren 2005-2008, also in der restlichen 16.
Wahlperiode (bis zum 4. April 2008) und in der auf Grund der "Hessischen
Verhältnisse" nur sehr kurzen 17. Legislaturperiode (5. April 2008 bis
19. November 2008) habe ich in meinem Aufsatz
"Direkte Demokratie auf der staatlichen Ebene" vom September 2008
geschrieben. Als Ergänzung gibt es auf dieser Seite unten Links zu den
maßgeblichen Quellen.
Über die jüngste Entwicklung seit 2009, also seit dem Beginn der 18. Legislaturperiode des Hessischen Landtags, berichte ich exklusiv hier auf dieser Homepage weiter unten ( >)
Zunächst zu Nr.1: für diejenigen, die sich in Ergänzung zu meinem o. a. Aufsatz näher für die Entwicklung von 2005 bis 2008 interessieren, hier einige weiterführende Links:
16. Legislaturperiode des Hessischen Landtags (5.4.2003 – 4.4.2008):
Die Enquetekommission zur Reform der Landesverfassung vom 8.7.2003 und Ihr Abschlussbericht vom April 2005
Die (erfolglosen) Gesetzentwürfe der FDP vom 27. Mai 2005 zur Änderung des Art. 123 HVerf. (LT-Drs. 4063) und zur Änderung des Art. 124 HVerf. (LT-Drs. 16/4064)
Die Rede des ehemaligen Bundesverwaltungsrichters und Wiesbadener Oberbürgermeisters, Prof. Dr. Hans-Joachim Jentsch "60 Jahre Hessische Verfassungsgeschichte" am 23.5.2006, mit dem eindringlichen Schlussappell:
"Soll die hessische Landesverfassung die hessische Verfassungswirklichkeit wiedergeben, so muss sie bearbeitet werden. Sie ist es wert! Eine Verfassungsreform sollte nicht weiter aufgeschoben werden!"
"Unsere freiheitliche Bürgergesellschaft lebt davon, dass die Bürger viel mehr tun, als zur Wahl zu gehen... Freilich setzt politische Anteilnahme am Gemeinwesen auch gute Teilhabe- und Einflussmöglichkeiten voraus. Diese Voraussetzung halten viele Bürger für nicht mehr gegeben. Sie empfinden Partei- und Politikverdrossenheit und wenden sich ab, weil "die da oben" ja doch machten, was sie wollen. Darum halte ich es für wichtig bei Verfassungsreformen immer auch zu bedenken, wie die Bürgernähe der Politik und die politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden können."
MdL Lothar Quanz (SPD), Vizepräsident des Landesparlaments nach dem kläglichen
Scheitern der Verfassungsreform im 16. Hessischen Landtag:
Rede vom 15.7.2006 zur 60. Wiederkehr der konstituierenden Sitzung der
Verfassungsberatenden Landesversammlung:
„Doch ich bin mir sicher, dass die gemeinsame Auffassung, dass
Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit nicht zu sehr differieren dürfen,
neue Reformbemühungen auslösen werden“.
Der Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz zur Erleichterung von Volksbegehren vom 27.6.2005, abgelehnt in der Plenarsitzung vom 8. März 2007 mit den Stimmen von CDU und FDP. Das Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid nach dem beim Volksbegehren - anders als beim Bürgerbegehren auf Gemeindeebene - Unterschriften erst dann gesammelt werden, wenn dies von der zuständigen Behörde zugelassen wurde. Und für eine solche Zulassung sind schon die Unterschriften von 3% der stimmberechtigten Bevölkerung (mit Nachweis des Stimmrechts) notwendig! Die Grünen wollten dieses Quorum auf 1% absenken.
CDU und FDP wehrten sich in den Plenardebatten vehement gegen die vorgeschlagene isolierte Änderung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid ohne gleichzeitige Verfassungsänderung:
vgl. Frau MdL Zeimetz-Lorz, CDU, am 12.7.2005: „Ein netter Versuch, aber für sich allein betrachtet, ergibt er wenig Sinn. Man stellt sehr schnell fest, dass das Problem nicht im Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid liegt, sondern in Art. 124 unserer Verfassung. Deshalb sollten zunächst die verfassungsrechtlichen Fragen geklärt und dann das Ausführungsgesetz überarbeitet werden. Es werden möglicherweise Hoffnungen geweckt, die am Ende wegen der 20%-Hürde nicht erfüllt werden können. Mir scheint das Problem eher bei der Hürde von 20% zu liegen, deutlich mehr als beim Ausführungsgesetz“.
vgl. Herr MdL Posch, FDP, am 12.7.2005: „Sie geben den Leuten Steine statt Brot. Bei der entscheidenden Bestimmung, bei der Verfassung, ändern wir eben nichts. Deswegen bin ich der Meinung, dass hier wirklich ein unehrliches Spiel getrieben wird“.
vgl. Frau MdL Zeimetz-Lorz, CDU, am 8.3.2007: „Die Zahl der zulässigen, aber letztlich erfolglosen Volksbegehren mag ansteigen. Bereits bei der ersten Lesung habe ich gesagt – und das ist auch von einigen Anzuhörenden bestätigt worden -, dass dadurch nur die Frustration ansteigen und niemandem geholfen sein wird“.
vgl. Frau MdL Beer, FDP, am 8.3.2007: „Das Absenken des Eingangsquorums ist richtig, aber eben leider nicht ausreichend“.
17. Legislaturperiode des Hessischen Landtags (5.4.2008 – 19.11.2008):
Prof. von Arnim nach dem Beginn der 17. Wahlperiode des Hessischen Landtags am 5.4.2008 in der Frankfurter Rundschau vom 7.7.2008: „Mehr Demokratie wagen in Hessen“.
Die 4 Gesetzentwürfe der Grünen-Fraktion vom 11. August 2008, die auf Grund
der Auflösung des 17. Hessischen Landtags "untergegangen" sind:
zur Ermöglichung der Verfassungsänderung auf Initiative des Volkes durch Ergänzung des Art. 124 HVerf. (LT-Drs. 17/481)
zur Erleichterung des Volksentscheids durch Änderung des Art. 124 HVerf. durch Absenkung des für ein erfolgreiches Volksbegehren notwendigen Zustimmungsquorums von 20% auf 10% (LT-Drs. 17/480)
zur Erleichterung des Volksbegehrens durch Änderung des einschlägigen Fachgesetzes insbesondere durch Absenkung des Zustimmungsquorums von 3% auf 1% (LT-Drs. 17/482) und
zur Einführung der Volksinitiative, mit der dem Volk die Möglichkeit eingeräumt werden soll, ein Anliegen an den Landtag zu richten, ohne dass dem ein ausformulierter Gesetzesentwurf zugrunde liegt (LT-Drs. 17/479)
Sodann zu Nr. 2, also zur Entwicklung ab 2009 bis heute:
In der 18. Legislaturperiode
(18.1.2009 – 17.1.2014) beschäftigte das Thema "Unmittelbare Beteiligung des Volkes
an Sachentscheidungen auf Landesebene" das Landesparlament (natürlich)
erneut:
Das Thema gewann in Hessen insbesondere an Beachtung durch den Volksentscheid im Nachbarland Bayern vom 4.7.2010, mit dem das Nichtraucherschutz-Lockerungsgesetz des Bayerischen Landtags wieder aufgehoben und der strenge Nichtraucherschutz wiederhergestellt worden war. Auch in Hessen hatte sich die ebenfalls (wieder) an der Regierung beteiligte FDP erfolgreich für eine Aufweichung des Nichtraucherschutzes eingesetzt (Änderungsgesetz vom 4.3.2010) – ohne ein von Fundamentalgegnern des blauen Dunstes initiiertes Referendum fürchten zu müssen. Ernüchtert stellte die FAZ am 2.3.2010 fest: „Volksentscheid ist nicht gleich Volksentscheid: Am Beispiel des Nichtraucherschutzes wird deutlich, dass die Hürden für die direkte Gesetzgebung für die Bürger in der Rhein-Main-Region unterschiedlich hoch sind, je nachdem ob sie in Bayern (z. B. unweit von Frankfurt am Main in Aschaffenburg) oder in Hessen wohnen“.
Die Koalitionsfraktionen CDU und FDP haben am 25.8.2010 entsprechend ihrer Koalitionsvereinbarung eine Initiative zur (isolierten) Änderung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid eingeleitet (LT-Drs. 18/2727) und mit Änderungsgesetz vom 8.2.2011 auch durchgesetzt, mit der insbesondere das Unterschriftenquorum für die Zulassung eines Volksbegehrens von 3% (der stimmberechtigten Bevölkerung) auf 2% abgesenkt wird. Das in den Jahren 2005 bis 2007 insbesondere den Grünen entgegen geschleuderte Argument "Kein Veräppeln des Volkes durch erleichterte Zulassung eines Volksbegehrens, wenn die Hoffnung auf einen Volksentscheid durch die nicht zu überwindende Verfassungs-Hürde von 20% zwangsläufig enttäuscht werden wird", gilt offenbar nicht mehr. Die Opposition spricht demnach von einer „Scheinreform“ weil eine (wirkliche) Entscheidung des Volkes über eine landespolitische Sachfrage weiterhin ohne Änderung der Landesverfassung nicht vorstellbar ist. Auch die Kritik der vom Landtag angehörten Sachverständigen konnte die Koalition nicht zu einem Einlenken bewegen. Beachtenswert fand ich insbesondere die schriftlichen Ausführungen von PD Dr. Johannes Rux (Universität Tübingen) vom 6.11.2010: er weist völlig zu Recht darauf hin, dass dieses vorgelagerte Antragsverfahren in der Hessischen Verfassung selbst überhaupt nicht vorgesehen ist und daher verfassungsrechtlich zumindest dann problematisch ist, wenn es prohibitiv wirkt.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat als
Konsequenz am 31.8.2010 erneut einen Gesetzentwurf (LT-Drs.
18/2764) zur Erleichterung des Volksentscheids eingebracht, um das gem.
Art. 124 HVerf. für ein erfolgreiches Volksbegehren notwendige Quorum von
20% auf 10% abzusenken.
Die Novelle ist am 16.12.2010 von
der Koalition abgelehnt worden, obwohl beide Fraktionen selbst früher eine
entsprechende Verfassungsänderung gefordert haben! Die CDU mit ihrem
Initiativantrag vom 4.3.1952 (vgl. LT-Drs. 2. Wahlperiode Abt. I Nr. 378 S.
723) und die FDP mit ihrem Initiativantrag vom 13.1.1970 (vgl. LT-Drs. 6.
Wahlperiode Abt. I Nr. 2593 S. 2) und zuletzt mit ihrem o. a. Gesetzentwurf
vom 27. Mai 2005 (Reduzierung des Quorums nicht auf 10%, aber immerhin auf
12,5%). Im Übrigen hatten CDU und FDP im Januar 2009 in ihrer
Koalitionsvereinbarung (S. 59) ausdrücklich niedergelegt, „dass die
demokratischen Parteien des Landtags erneut eingeladen werden, die
notwendigen Änderungen für eine moderne Verfassung des 21. Jahrhunderts auf
den Weg zu bringen“.
Die SPD hat mit ihrem Änderungsantrag vom 2.11.2010 (LT-Drs.
18/3172) sogar eine Absenkung auf 5% für angemessen erachtet und darauf
hingewiesen, dass nach
Stuttgart 21 und dem „Schwarzen Donnerstag“ im Stuttgarter Schlossgarten
(30.9.2010) echte Teilhabe der Bürger an landespolitischen Entscheidungen
notweniger denn je sei.
Möglicherweise wegen ihrer Uneinigkeit über das Maß der erforderlichen
Absenkung haben es Grüne und SPD nicht verstanden, für ihre Zustimmung vom
2.12.2010 (LT-Drs. 18/3441) zu der von der Koalition propagierten
Verfassungsänderung zur Aufnahme einer
„Schuldenbremse“ qua Volksabstimmung am 27. März 2011 ein entsprechendes
Entgegenkommen von CDU und FDP in der Frage der Bürgermitwirkung an
landespolitischen Entscheidungen auszuhandeln.
Wie man es besser macht, zeigten (wieder einmal) der Bayerische Landtag und vor allem das Bayerische Volk - bei der Volksabstimmung in Bayern am 15.9.2013 - über gleich 5 Änderungen der Bayerischen Verfassung. Die wichtigste davon ist wohl die neue Staatszielbestimmung „Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land“. Damit hat die Verwaltung den klaren Auftrag erhalten, die Aufteilung des Landes in urbane Ballungszentren und immer dünner und dazu noch überwiegend von älteren Menschen besiedelte ländliche Räume nicht tatenlos mitanzuschauen, sondern sich mit großer Anstrengung der Landflucht gerade der Jüngeren entgegenzustemmen.
In der 19. Wahlperiode des Hessischen Landtags (18.1.2014 - 17.1.2019) war es nach dem Einstieg der Grünen in die Regierungsverantwortung in Anbetracht der zahlreichen Bemühungen in der jüngeren Vergangenheit klar, dass es wieder einen ernsthaften neuen Versuch zur Reform der Hessischen Verfassung geben würde. In die Koalitionsvereinbarung der ersten schwarz/grünen Regierungskoalition in einem deutschen Flächenland wurden dazu am 23.12.2013 ausdrücklich die vier folgenden klaren Festlegungen aufgenommen (S. 41):
„Die Hessische Verfassung stammt aus dem Jahre 1946 und ist
älter als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die hessischen
Verfassungsväter haben ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkriegs eine
historische Leistung vollbracht und als erste einem deutschen Bundesland eine
demokratische Grundordnung gegeben. Seit ihrer Verkündung vor mehr als sechzig
Jahren ist die Hessische Verfassung nur wenige Male verändert worden. Sie
enthält weiterhin Regelungen, die aus unterschiedlichen Gründen überholt sind.
(….)
Unabhängig von
dem Ergebnis des Verfassungskonvents werden wir der
hessischen Bevölkerung
folgende, die
Verfassung ändernde Regelungen noch in dieser Legislaturperiode zur Abstimmung
vorlegen:
1. Verankerung des Staatsziels Ehrenamt (neu)
2. Abschaffung der Todesstrafe (Art. 21)
3. Erleichterungen bei den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Volksbegehren und Volksentscheiden (Art. 124)
4. Herabsetzung des passiven Wahlalters (Art. 75).“
Am 10.
November 2015 haben die Koalitionsfraktionen zusammen mit der SPD und der
FDP eine
Enquetekommission "Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes
Hessen" aus der Taufe gehoben, welche die Hessische Verfassung in ihrer
Gesamtheit überarbeiten und Vorschläge für ihre zukunftsfähige Gestaltung
unterbreiten soll.
Es soll sichergestellt werden, dass Vorschläge aus der Bevölkerung in den
Prozess einfließen können. Als technisches Mittel zu dessen Umsetzung soll
eine eigene Internetseite mit interaktiven Funktionen geschaffen werden.
Außerdem soll in jedem Regierungsbezirk mindestens ein Bürgerforum
veranstaltet werden. Sachverständige und
Mitglieder der Kommission sollen dort die Arbeitsergebnisse sowie die
Möglichkeiten und Grenzen einer Verfassungsänderung vorstellen. Die
Teilnehmenden können Vorschläge machen, die an die Enquetekommission
weitergeleitet werden.
Schließlich sollen alle hessischen rechts-, sozial- und
verwaltungswissenschaftlichen Fakultäten an den hessischen Universitäten
aufgefordert werden, Vorlesungen oder Seminare zum Thema Änderung der
Hessischen Verfassung zu organisieren, um die Ergebnisse einzubringen. Zudem
soll ein Schülerwettbewerb veranstaltet werden, dessen Ergebnisse ebenfalls in
die Arbeit der Enquete einfließen sollen.
Ursprünglich war ich sehr
skeptisch hinsichtlich der Erfolgsaussichten dieses Unternehmens und
habe dafür folgende Gründe angeführt:
Die ersten zwei Jahre der 19.
Legislaturperiode hat man ungenutzt verstreichen lassen. Ob für den äußerst
breiten Reform-Ansatz, der jetzt gewählt wurde, die restliche Dauer der
Wahlzeit ausreichen wird, darf bezweifelt werden.
Trotz bereits zweier
Wahlrechtsnovellen in dieser Legislaturperiode hat man keine Änderung des § 4
Landtagswahlgesetzes vorgenommen. Hier ist das Wählbarkeitsalter „21“
für Landtagsabgeordnete zusätzlich zur Bestimmung in der Landesverfassung
(überflüssigerweise) noch einmal geregelt. Diese Bestimmung hätte, um die
Ernsthaftigkeit des Vorschlags zur Änderung von Art. 75 der Hessischen
Verfassung zu unterstreichen, längst aufgehoben werden können, etwa
anlässlich der Herabsetzung des Wählbarkeitsalters für Bürgermeister und
Landräte auf die Volljährigkeitsgrenze.
Aber die Enquete-Kommission zur Reform
der Landesverfassung hat sich tatsächlich
am 27.11.2017 auf ein Reformpaket mit 15
Vorschlägen geeinigt. "Wer hätte das gedacht?" Das
offensichtliche Ziel von Schwarz/Grün, für die vier in der
Koalitionsvereinbarung genannten Reformvorhaben die "breite" Unterstützung des
Landtags zu erhalten, wurde erreicht.
Der wohl bedeutsamste Vorschlag betrifft die sachunmittelbare Demokratie: Ein Volksbegehren soll zukünftig schon erfolgreich sein (und
einen Volksentscheid nach sich ziehen), wenn 5% - und nicht länger 20%
- der
Abstimmungsberechtigten sich mit ihrer Unterschrift dafür aussprechen.
Das entspricht dem o.a. SPD-Vorschlag vom
2.11.2010 (LT-Drs. 18/3172).
Für einen
erfolgreichen Volksentscheid soll allerdings zukünftig nicht mehr die
Stimmenmehrheit ausreichen; sie muss zusätzlich - ebenso wie beim
Bürgerentscheid in Gemeinden mit bis zu 50.000 Einwohnern - ein neu
eingeführtes Zustimmungs-Quorum von 25% überspringen.
Die Fraktion der Linken übt deutliche Kritik
und geht davon aus, dass es bei einem Zustimmungs-Quorum von 25% wohl kaum
je einen erfolgreichen Volksentscheid geben werde, dass sich also im Ergebnis
nichts ändern, der Bürgerfrust vielmehr noch verstärkt werde (Pressemitteilung
der Linken-Fraktion vom 27.11.2017). 25% der Wahlberechtigten hinter sich
zu bringen - davon träumt so manche Partei im Vorfeld von Parlamentswahlen
(vgl. zu den
Landtagswahlen in Hessen 2009 und 2013). In der Tat fordert kein anderes
Bundesland im
Ländervergleich der rechtlichen Grundlagen für den Volksentscheid ein höheres Zustimmungs-Quorum als 25%; ausreichend wäre
vielleicht auch ein Quorum von 20% (wie in Baden-Württemberg) oder 15 % wie in
Schleswig-Holstein gewesen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der in
hessischen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern geltenden Quoren: ein Bürgerentscheid
ist dort schon erfolgreich, d.h. die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger
gilt, wenn die Stimmenmehrheit ein Zustimmungs-Quorum von 15% überspringt,
weil es in großen Gebietskörperschaften "besonders schwer ist, einen
ausreichenden Teil der Bevölkerung für ein bestimmtes Sachthema zu
mobilisieren" (vgl.
LT-Drs. 19/2200 S. 16). Bei der jüngsten Novelle des Bürgerentscheids hat
die schwarz/grüne Landesregierung zum Zustimmungsquorum noch ausgeführt: "Ein
zu hohes Abstimmungsquorum führt indes im Endeffekt nicht nur dazu, dass sich
die Stimmenmehrheit nicht durchsetzen kann und das Votum der abstimmenden
Bürger somit ignoriert wird, sondern kann auch dazu anleiten, dass die Gegner
einer Vorlage die Abstimmung boykottieren. Als Gegner muss man sein "Nein" gar
nicht auf dem Stimmzettel festhalten, da bei einem Zustimmungsquorum alle
nicht abgegebenen Stimmen quasi als Nein-Stimmen gewertet werden. Diese
Boykott-Strategie schadet dem öffentlichen Diskurs und damit der
demokratischen Kultur" (vgl.
LT-Drs. 19/2200 S. 16).
An dieser
Stelle sei daran erinnert, dass Quoren für jegliche Mehrheitsentscheidungen,
sei es im Parlament, sei es für das Volk, demokratietheoretisch immer die
Ausnahme sind. Der Grundsatz ist vielmehr in
Art. 2 Abs. 2 der Bayerischen
Verfassung niedergelegt: "Das Volk tut seinen Willen durch Wahlen und
Abstimmung kund. Mehrheit entscheidet". Bayern und Hessen als
ehemals amerikanisch besetzte Bundesländer entwickeln sich somit in der Frage
der Volksgesetzgebung diametral auseinander. Bayern bleibt beim Verzicht auf
ein Zustimmungsquorum beim Volksentscheid - wenn es nicht um die
Landesverfassung selbst geht -, verlangt dafür allerdings ein höheres, aber
dennoch maßvolles und durchaus überwindbares Unterschriftenquorum beim
Volksbegehren i.H.v. 10%. Die hessischen Grünen, die dieses Modell mit ihrem
o.a. Gesetzentwurf vom 31.8.2010 übernehmen wollten, konnten sich offenbar
auch 2017 nicht durchsetzen. Das "Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk" ist
einfach im Hessischen Landtag stärker ausgeprägt als im Bayerischen
Landesparlament.
Der "große Wurf" ist der schwarz/grüne
Novellierungsvorschlag also nicht, zumal es bei dem bundesweit einmaligen Tabu
der Landesverfassung selbst für Volksbegehren und Volksentscheid bleiben soll. Unter dem Strich bedeutet
trotz der vorgestellten Kritik der Vorschlag der
Enquete-Kommission und der vier für ihre Einsetzung verantwortlich zeichnenden
Fraktionen nach meinem Dafürhalten eine deutliche Verbesserung gegenüber
dem gegenwärtigen Rechtszustand. Denn wenn man den
Ländervergleich zum Unterschriften-Quorum beim Volksbegehren zu Rate
zieht, kann es in Hessen auf der Basis des vorgeschlagenen 5%-Qorums in der
Zukunft tatsächlich zu Volksentscheiden kommen. Damit ist also immerhin ein
Anfang gemacht für die sachunmittelbare Demokratie auf Landesebene in Hessen.
Das gilt allerdings nur dann, wenn (auch) die Unterschriftenhürde für den
Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens (deutlich) herabgesetzt wird. Die Frage, ob für den
Antrag auf Zulassung des
Volksbegehrens weiterhin 2% der Abstimmungsberechtigten ihre Unterschrift
geben müssen oder ob dieses Zulassungsquorum - schon aus Gründen der
Verhältnismäßigkeit - ebenfalls abgesenkt wird, etwa wie von den Grünen
mehrfach gefordert auf 1%, soll offensichtlich erst der neue Landtag in der
nächsten, am 18. Januar 2019 beginnenden 20. Wahlperiode entscheiden. In ihrem
Gesetzentwurf "für ein Gesetz zur Änderung des Artikels 124 der Verfassung des
Landes Hessen (Stärkung der Volksgesetzgebung)" vom 5.12.2017 betonen die
einbringenden Fraktionen CDU, Grüne, SPD und FDP, dass das Gesetz über
Volksbegehren und Volksentscheid im Falle der Zustimmung des Volkes zu der
vorgeschlagenen Verfassungsänderung ohnehin zeitnah angepasst werden müsse
(LT-Drs. 19/5722 S. 4). Wenn man den
Ländervergleich über die Rahmenbedingungen des Antrags auf ein Volksbegehren
studiert, ist das hessische Einleitungs-Quorum von 2% jedenfalls einmalig und
"noch freundlich ausgedrückt" ungewöhnlich hoch.
In Hessen ist nach alledem die Änderung der Landesverfassung (noch) in
der 19. Legislaturperiode durchaus wahrscheinlich (Volksabstimmung zusammen mit der nächsten
Landtagswahl vermutlich im Herbst 2018).
Voraussetzung ist natürlich zunächst, dass der Landtag dem Votum der Kommission folgt,
was allerdings nur eine Formsache sein dürfte. Es besteht mithin Anlass
zur Annahme, dass der Landtag sein Misstrauen gegenüber dem
eigenen Volk zumindest ein Stück weit überwinden wird.
Dazu hatte Marc Widmann einen sehr lesenswerten Artikel in der Süddeutschen Zeitung
vom 27.11.2012 mit dem Titel
„Feigheit vor dem Volk: Die Todesstrafe gibt es nicht in Deutschland? Von wegen:
In Hessen steht sie in der Verfassung – das lässt sich offenbar nicht ändern“
geschrieben.
Auch im Nachbarland Baden-Württemberg hat Grün/Rot erst kurz vor der Landtagswahl (am 13. März 2016) die Zustimmung der Oppositionsfraktionen zur Absenkung der Quoren für Volksbegehren und Volksentscheid in der Baden-Württembergischen Landesverfassung erreihen können. Im September 2015 hieß es dann offiziell: "Alle Fraktionen im baden-württembergischen Landtag wollen eine Änderung der Landesverfassung". Ende November wurde die Verfassungsänderung dann beschlossen. In Baden-Württemberg ist für eine Verfassungsänderung der Landtag selbst zuständig; nötig ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit. "Entscheidung auf den letzten Drücker" kommentierte Renate Allgöwer in der Stuttgarter Zeitung. Einer der anderen jetzt umgesetzten Vorschläge stammte übrigens von der Baden-württembergischen Landesregierung. Auch daran zeigt sich, dass die Überzeugung, Vorschläge für Verfassungsänderungen müssten (stets) aus der Mitte des Landtags kommen, eher eine (weitere) hessische Spezialität ist als ein ungeschriebener demokratischer Grundsatz.
Bis zur Änderung der Hessischen Verfassung und anschließend des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid bleibt das Fazit der Initiative "HessenNeuVerfasst", die Hessen als „Demokratie-Schlusslicht“ in Deutschland bezeichnet, in Anbetracht der hessischen Mini-Reform vom Februar 2011 aktuell. Im Volksentscheids-Ranking von Mehr Demokratie e. v. hat Hessen im Jahr 2016 für die Bürgerbeteiligung auf Landesebene zum wiederholten Mal die Note „Mangelhaft“ erhalten. Nach der Reform in Baden-Württemberg Ende des Jahres 2015 ist das Volk danach nur im Saarland gegenwärtig noch weiter von einer echten Bürgermitwirkung entfernt. Denn in Hessen hatten die Bürgerinnen und Bürger in den ersten sieben Jahrzehnten – die Hessische Verfassung hatte am 1. Dezember 2016 ihren 70. Geburtstag - in der Tat keine realistische Chance, einen Volksentscheid zu initiieren. Die Ausübung der Landesgesetzgebung durch das Volk im Wege des Volksentscheids (Art. 116 Abs. 1 Buchst. a HVerf.) wird ohne Anpassung der Landesverfassung an die gesellschaftliche Realität graue Theorie bleiben.
© Ulrich Dressler, 19.12.2017