Buchbesprechung (veröffentlicht in StAnz. 1999 S. 3492)

Bürgerversammlung-Bürgerbegehren-Bürgerentscheid (Elemente direkter Demokratie, dargestellt am hessischen Kommunalrecht). Von Ute Spies. 1999, brosch., 88 DM. Richard Boorberg Verlag (Marburger Schriften zum öffentlichen Recht, Band 13). ISBN 3-415-02570-5.

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1998 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Doktorvater war Prof. Dr. Werner Frotscher. Die Darstellung befindet sich auf dem Stand von Januar 1998; Literatur und Rechtsprechung sowie nachfolgende Gesetzesänderungen bis zum Oktober 1998 wurden vornehmlich in den Fußnoten weitestgehend noch berücksichtigt.

Um es vorwegzunehmen: Dieses (gelungene) Werk war überfällig, nachdem die Wirkungen des 1993 in Kraft getretenen § 8 b HGO auf die Kommunalpolitik gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Beleg dafür ist nämlich nicht nur die Zahl der durchgeführten Bürgerbegehren und -entscheide (49 bis zum 31.10.1999); der Bürgerentscheid spielt in der kommunalen Praxis vielmehr auch - wenngleich empirisch schwer nachweisbar - als Drohinstrument, als "fleet in being" eine Rolle. Ohne zu übertreiben darf man wohl behaupten, dass der Bürgerentscheid die hessische Kommunalpolitik auf der Gemeindeebene mindestens so sehr verändert hat wie die zeitgleich eingeführte Direktwahl der Bürgermeister.

Die Autorin hat ihre Arbeit in 6 Teile untergliedert: Nach dem Literaturverzeichnis, dem Abkürzungsverzeichnis und einer Einführung (1. Teil) beschäftigt sie sich im 2. Teil mit der Bürgerbeteiligung im Gefüge kommunaler Selbstverwaltung und der Vereinbarkeit von Partizipationsmodellen mit der repräsentativ-demokratischen Grundstruktur der Kommunalverfassung. Hier beschäftigt sie sich unter anderem mit der Frage der Zulässigkeit einer konsultativen Bürgerbefragung durch die Gemeindevertretung. Der 3. Teil der Arbeit enthält einen Vergleich der §§ 8 a und 8 b HGO mit den entsprechenden Vorschriften anderer Bundesländer. Im 4. Teil geht es um die Bürgerversammlung (§ 8 a HGO), im 5. Teil um Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (§ 8 b HGO). Der 6. Teil enthält eine abschließende eigene Bewertung unter Heranziehung der Erfahrungen in der praktischen Anwendung der Vorschriften. Abschließend fasst die Autorin ihre Untersuchung in Thesen zusammen und fügt dem Band als Anlagen eine Übersicht über die durchgeführten Bürgerentscheide in Hessen und eine Synopse über die Regelungen der Bundesländer sowie ein Stichwortverzeichnis bei.

Zutreffend stellt die Untersuchung fest, dass die hessische Regelung über Bürgerentscheid/Bürgerbegehren insgesamt ausgewogene Vorgaben trifft, die einerseits anwenderfreundlich sind, andererseits aber einer missbräuchlichen Inanspruchnahme in ausreichendem Maß vorbeugen. Von § 8 b HGO wurde in den hessischen Gemeinden bisher maßvoll und verantwortungsbewusst Gebrauch gemacht. Es hat sich auch in Zeiten der "Politikverdrossenheit" gezeigt, dass es durchaus möglich ist, die Gemeindeöffentlichkeit für bestimmte Sachthemen zu mobilisieren. Die Befürchtung, der Bürger interessiere sich ohnehin nicht für Mitwirkungsmöglichkeiten und lasse sich lieber passiv verwalten, hat keine Bestätigung gefunden. Ich teile die Hoffnung der Autorin, dass die gemeindlichen Mandatsträger in der Zukunft die bürgerschaftliche Mitwirkung mehr als Herausforderung und weniger als Behinderung ihrer Arbeit begreifen.

Nach den bisherigen Erfahrungen mit § 8 b HGO in der kommunalen Praxis sind die Forderungen nach einer Erweiterung des Negativkatalogs (§ 8 b Abs. 2 HGO) und einer Erhöhung des Einleitungsquorums (§ 8 b Abs. 3 Satz 3 HGO) mittlerweile eher verblasst (vgl. dazu noch den Änderungsantrag der CDU-Landtagsfraktion vom 28.4.1992 zur seinerzeitigen Kommunalverfassungsnovelle, Landtagsdrucks. 13/1397). Immer häufiger sind dagegen Stimmen zu hören, die für eine Absenkung des Abstimmungsquorums von derzeit 25% (§ 8 b Abs. 6 HGO) plädieren, nachdem (ausgerechnet) das Bundesland Bayern nach der Überarbeitung des Artikels 18 a der Bayerischen Gemeindeordnung mit Wirkung zum 1.4.1999 eine außergewöhnliche - abgestufte - Regelung geschaffen hat (10% in Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern, 15% in Gemeinden bis zu 100.000 Einwohnern und 20% in Gemeinden bis zu 50.000 Einwohnern); der völlige Verzicht auf ein Beteiligungsquorum war im Zusammenhang mit der dreijährigen Bindungswirkung des Bürgerentscheids (so auch § 8 b Abs. 7 S. 2 HGO) nach der Entscheidung des BayVerfGHs v. 29.8.1997 (DVBl. 98 S. 136) bekanntlich verfassungswidrig. Gefordert wird immer öfter auch eine Aufhebung des sog. "Finanztabus" (§ 8 b Abs. 2 Nr. 4 HGO) nach Schweizer Vorbild; als Beleg wird angeführt, dass gerade in Hessen die Bürgerinnen und Bürger mit den bisherigen Bürgerentscheiden bewiesen hätten, dass sie sehr verantwortungsbewusst und maßvoll mit öffentlichen Geldern umgehen könnten.

Schließlich wird die Einführung des Bürgerentscheids in mittlerweile allen Bundesländern nicht ohne Auswirkungen bleiben auf die staatliche Ebene. Die Regierungsfraktionen auf Bundesebene - SPD und GRÜNE - haben in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 schon die Einführung des Volksentscheids im Grundgesetz vereinbart, wozu allerdings qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat notwendig sind (Art. 79 Abs. 2 GG). In Hessen wird in der jüngeren Vergangenheit vermehrt die Absenkung des sehr hohen Einleitungsquorums für ein Volksbegehren von 20% (Art. 124 Abs. 1 Satz 1 HVerf.) auf maßvolle 10% wie in § 8 b Abs. 3 HGO gefordert (vgl. schon den Initiativantrag der F.D.P. v. 13.1.1970 - LT-Drucks. 6/2593; neuerdings das Diskussionspapier "Reform der Hess.Verf." der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen vom 29.3.1998 und den "Entwurf einer neuen Landesverfassung" der Arbeitsgruppe "Schöne Aussicht" ebenfalls aus dem Jahr 1998, erarbeitet für Bündnis 90/Die Grünen - Landesverband Hessen). In Hessen ist es bekanntlich seit 1946 nur ein einziges Mal zu einem zugelassenen Volksbegehren gekommen, das jedoch an diesem 20% Quorum scheiterte (1966: Es ging auf Initiative der CDU um die Einführung der Briefwahl in das Landtagswahlgesetz). Zuletzt scheiterte die Initiative "Erhalt des Buß- und Bettages in Hessen" daran, dass ein Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens bereits die Unterschriften von mind. 3% der stimmberechtigten Bevölkerung tragen muss (vgl. StAnz. 1998 S. 2891). Man darf darauf gespannt sein, ob sich CDU und F.D.P., die in Hessen gemäß ihrer Koalitionsvereinbarung "eine Bürgergesellschaft anstreben, in der, bei allen inneren Differenzen und Unterschieden, die Menschen aktiv an der Gestaltung ihres Staates mitarbeiten", in dieser Legislaturperiode dieses Themas annehmen werden. Immerhin laufen gegenwärtig in fünf Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen) Unterschriftensammlungen zur Zulassung von Volksbegehren für mehr Bürgerbeteiligung (insbes. auf der staatlichen Ebene) und einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene hat die Hessische Landesregierung am 21.9.1999 bereits in den Landtag eingebracht (LT-Drucks. 15/425).

Das vorgestellte Werk ist jedem, der sich für bürgerschaftliche Mitwirkung in der repräsentativen Demokratie (nicht nur in den Gemeinden) interessiert, uneingeschränkt zu empfehlen.

Ministerialrat Ulrich Dreßler

© Ulrich Dressler, 04.08.2007