B u c h b e s p r e c h u n g (veröffentlicht in StAnz. 2000 S. 75)

Mehr direkte Demokratie wagen (Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte - Praxis - Vorschläge). Von Hermann K. Heußner und Otmar Jung (Hg.). 1999, Paperback, 384 Seiten, 24,80 DM. Olzog Verlag, München. ISBN 3-7892-8017-8.

Kaum ein verfassungspolitisches Thema ist derzeit so interessant wie die Frage, ob in unserer Zeit der "Politikverdrossenheit" und des "Parteienüberdrusses" das System der repräsentativen Demokratie um Elemente der direkten Demokratie ergänzt werden sollte. So haben auf Bundesebene die Regierungsfraktionen - SPD und Grüne - in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 die Einführung des Volksentscheids im Grundgesetz vereinbart, wozu allerdings qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat notwenig sind (Artikel 79 Abs. 2 GG). In etlichen Bundesländern wurden die Hürden für die Volksgesetzgebung in der jüngeren Vergangenheit teilweise drastisch gesenkt. Zuletzt hat das Land Rheinland-Pfalz am 13.12.1999 bekannt gegeben, seine Landesverfassung nach achtjähriger Beratungszeit mit der Mehrheit von SPD, F.D.P. und CDU ändern zu wollen; insbesondere soll durch eine Reform von Volksbegehren und Volksentscheid die Bürgerbeteiligung gestärkt werden. In vier Bundesländern (in den Nachbarländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Thüringen sowie im Stadtstaat Bremen) laufen derzeit Unterschriftensammlungen zur Zulassung von Volksbegehren für mehr Bürgerbeteiligung auf der staatlichen Ebene.

In Hessen stehen "Volksbegehren" und "Volksentscheid" noch nicht ganz oben auf der politischen Tagesordnung. In der Koalitionsvereinbarung für die 15. Legislaturperiode des Hessischen Landtags vom Frühjahr 1999 haben CDU und F.D.P. dieses Thema nicht ausdrücklich angeschnitten. Jedoch will man eine "aktive Bürgergesellschaft" und damit im Kern wohl nichts anderes als die Bundesregierung, deren Leitbild der "aktivierende Staat" ist. Man darf also gerade in Hessen besonders gespannt darauf sein, ob sich Landesregierung und Landtag nach dem Motto "Aktive Bürgergesellschaft durch mündige Bürger" der Volksgesetzgebung annehmen werden. Einen ebenso interessanten wie problematischen Einstieg in diese Materie haben die Koalitionsfraktionen im Hessischen Landtag kürzlich gewählt, indem sie das das "Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid" und das "Gesetz über Volksabstimmung" zum 31.12.2005 außer Kraft setzen wollen (LT-Drucks. 15/834 vom 6.12.1999).

Bisher waren entsprechende Reformen in Hessen auf die kommunale Ebene beschränkt (§ 8 b HGO). Im Rahmen der Anhörung zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung vom 21.9.1999 für ein Gesetz zur Stärkung der Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene (LT-Drucks. 15/425) hat der Bund der Steuerzahler Hessen e.V., von der CDU-Landtagsfraktion bei dieser Gelegenheit für seine "hohe politische Kompetenz" gerühmt, bereits gefordert, die Quoren für die Zulassung eines Volksbegehrens (3%) sowie für das Zustandekommen eines Volksbegehrens (20%) deutlich abzusenken (vgl. FR vom 1.12.1999). In Hessen ist es bekanntlich seit 1946 nur ein einziges Mal zu einem zugelassenen Volksbegehren gekommen, das jedoch an diesen 20%-Quorum (Art. 124 Abs. 1 HVerf.) scheiterte, so dass ein Volksentscheid bis heute noch nicht stattgefunden hat. In keinem anderen Bundesland gibt es ein höheres Unterschriftenquorum und eine kürzere Einreichungsfrist (14 Tage) für das Volksbegehren. Die hessische F.D.P. hat bereits 1970 eine Absenkung des Quorums von 20% auf maßvolle 10% gefordert (vgl. den Initiativantrag vom 13.1.1970 - LT-Drucks. 6/2593). Neuerdings wird diese Forderung auch unterstützt von der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen sowie von einer von Bündnis 90/Die Grünen eingesetzten Arbeitsgruppe zur Verfassungsreform.

Eine Änderung der Hessischen Verfassung, z.B. also des Art. 124 Abs. 1, durch Volksgesetzgebung (ohne Initiative des Landtags), ist im Übrigen nach der Rechtsliteratur nicht zulässig, weil Art. 123 HVerf. eine abschließende  Sonderregelung sei (vgl. Hannappel/Meireis, Leitfaden Volksbegehren und Bürgerbegehren im Lande Hessen, 1997, Rn. 2). In anderen Bundesländern spielt dieses Problem in der Praxis eine ungleich größere Rolle: In Nordrhein-Westfalen und Bremen liegt die Frage, ob auch verfassungsändernde Gesetze Gegenstand eines Volksbegehrens sein können, derzeit den Landesverfassungsgerichten zur Entscheidung vor. In Hamburg haben bei dem Volksentscheid am 27.9.1998 (nach erfolgreichem Volksbegehren) 74% der Abstimmenden (bei einer Beteiligung von 66,7%) für Erleichterungen der Volksgesetzgebung gestimmt, sind jedoch an dem hohen Zustimmungsquorum (50% der Wahlberechtigten) gescheitert. In Berlin wurde 1998 trotz der Sammlung von 37.000 Unterschriften ein Volksbegehren zur Erleichterung der Volksgesetzgebung vom Senat nicht zugelassen, denn in Berlin erklärt die Verfassung Volksbegehren zur Verfassung ausdrücklich für unzulässig. Eine solche Regelung gibt es in keinem anderen Bundesland; der Berl. VerfGH hat die Entscheidung des Senats anschließend - wenig überraschend – bestätigt (Urt. v. 2.6.19990 - 22/99). In Bayern hat der dortige VerfGH mit Entscheidung vom 17.9.1999 (KommP BY 1999 S. 383) festgestellt, dass zwar die Landesverfassung auch im Wege der Volksgesetzgebung geändert werden kann, für eine vollplebiszitäre Verfassungsänderung jedoch ein Zustimmungsquorum von 25% erforderlich sei. Dieses Quorum sei zwar in der Verfassung nicht vorgeschrieben, es bestehe aber insofern eine planwidrige Unvollständigkeit des Verfassungstextes. Seine frühere, gegenteilige Auffassung (Entsch. V. 2.12.1949 = VerfGH 2, 181, 218) hat das Verfassungsgericht ausdrücklich aufgegeben.

Wer sich in Hessen oder anderswo für dieses Thema interessiert, dem ist der hier anzuzeigende Sammelband nur zu empfehlen. 27 Autoren - Wissenschaftler, Politiker, Vertrauensleute von Volksbegehren in den Bundesländern - analysieren, berichten und werben für mehr direkte Demokratie im Grundgesetz und in den Landesverfassungen. Das Vorwort stammt von Bundesminister a.D. Dr. Hans-Jochen Vogel, der ausdrücklich an Artikel 20 Abs. 2 GG erinnert, demzufolge alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von ihm in Wahlen u n d A b s t i m m u n g e n ausgeübt wird (vgl. auch Art. 70, 71 HVerf.). Die Frage, ob das parlamentarische System durch die angestrebte Reform untergraben werde, wird gestellt und verneint: Die Arbeit des Parlaments bleibt unentbehrlich; aber ergänzend sollen die Bürger die Möglichkeit haben, durch Volksbegehren und Volksentscheid einzugreifen und punktuell politische Fragen selbst zu beantworten. Meinungsumfragen seien in ihrem Einfluss auf die Politik jedenfalls schlechter als Volksbegehren und Volksentscheide, denen ja politische Auseinandersetzungen und Informationen vorausgehen. Wenngleich Sachentscheidungen durch Plebiszite nicht automatisch besser würden, so werde es doch immerhin einen Abbau von Ohnmachtserfahrung und Staatsverdrossenheit geben. Die Frage "Was lehrt die deutsche Geschichte?" wird gestellt und dabei insbesondere mit der unzutreffenden Behauptung aufgeräumt, dass die Republik von Weimar gerade auch an den seinerzeitigen Volksbegehren zugrunde gegangen sei. Die Erfahrungen anderer Länder, insbesondere der Schweiz und vieler US-Bundesstaaten, werden dargestellt ebenso wie die Wege zur Demokratisierung der Europäischen Union. Eine Darstellung des "Siegeszugs von direkt demokratischen Elementen auf der kommunalen Ebene" fehlt ebenso wenig wie eine Übersicht über die Entwicklung in den Landesverfassungen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit einigen Anwendungsfällen der "direkten Demokratie in der Praxis", wie z.B. dem Volksentscheid über die Rechtschreibereform in Schleswig-Holstein 1998 sowie dem Bürgerentscheid über die Verwaltungsspitze in der hessischen Gemeinde Riedstadt. Zuletzt werden "22 Argumente für skeptische Zeitgenossen" zusammengetragen sowie ein Vorschlag für die Grundgesetzänderung unterbreitet. Das Buch schließt mit einer Vorstellung der Autorinnen und Autoren.

Ministerialrat Ulrich Dreßler

© Ulrich Dressler, 09.08.2007