Buchbesprechung (veröffentlicht in StAnz. 2002 S. 1684)

Experimentierklauseln für die Verwaltung und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen.
Von Volker Maaß. 2001, 222 Seiten, Preis: 56,00 €. Verlag Duncker & Humblot, Berlin.
ISBN 3-428-10558-3.  

Experimentierklauseln für die Verwaltung sind - von der Gesetzgebungslehre weitgehend unbeachtet - im Zuge der aktuellen Verwaltungsmodernisierung zu neuer Blüte gekommen. Sie bilden nach der Definition des Autors eine Gesetzestechnik, mit Hilfe derer der Gesetz- oder Verordnungsgeber zur Erprobung eines von der Verwaltung durchzuführenden Vorhaben, welches zu einem späteren Zeitpunkt auf der Basis der gewonnen Erfahrungen endgültig normiert werden soll, die Exekutive ermächtigt, von geltendem Recht abzuweichen oder zu dispensieren. 

Adressat und Nutznießer dieser Experimentierklauseln sind insbesondere in der jüngeren Vergangenheit neben den Hochschulen die Gemeinden und Landkreise, was in Anbetracht der kommunalen Haushaltslage nicht weiter überraschend ist. Experimentierklauseln im kommunalen Wirtschaftsrecht sind mittlerweile üblich. Gerade in Hessen hat allerdings die Neufassung des § 133 HGO 1994 für besonders heftige Kritik gesorgt, wurde diese Vorschrift doch als “bemerkenswertes Beispiel für die Selbstverstümmelung des Gesetzgebers” und als “Freisetzungsrichtlinie für die öffentliche Verwaltung” bezeichnet (vgl. Siedentopf, DÖV 1995, 193). Dabei war die hessische Regelung im Ländervergleich weder neu noch besonders weitreichend und wird folgerichtig in dem hier vorzustellenden Werk als “gesetzestechnisch vorzugswürdig” gelobt. Andere Bundesländer gehen weit über das Gemeindewirtschaftsrecht hinaus und lassen Ausnahmen zugunsten experimentierfreudiger Kommunen auch zu von organisationsrechtlichen bzw. von grundsätzlich allen Vorschriften der Kommunalverfassung (vgl. Art. 117 a Bay GO und § 126 Abs. 1 S. 2 - 4 GO NRW) und sogar von den dienstrechtlichen Vorschriften des Landes (vgl. § 135 a GO SH).

Hauptanliegen des Autors ist es denn auch, die verfassungsrechtlichen Grenzen von Experimentierklauseln für die Verwaltung auszuloten. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Untersuchung steht insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip sowie deren Unterprinzipien (Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitstheorie, Bestimmtheitsprinzip, Normenklarheit). Im Ergebnis hält der Autor danach mit überzeugenden Argumenten die weitestgehende Form der Experimentierklausel, nämlich eine generelle Norm zur Befreiung der Kommunen von Rechtsvorschriften und Standards für verfassungswidrig, insbesondere unvereinbar mit dem Vorbehalt des Gesetzes. Eine solche generelle Standardbefreiungsmöglichkeit zu Gunsten der Kommunen gibt es in Sachsen-Anhalt (§ 133 Abs. 4 GO LSA 1997), Nordrhein-Westfalen (§ 4 Kommunalisierungsmodellgesetz 1998) und in Mecklenburg-Vorpommern (Standardöffnungsgesetz 2000). Hinter diesen Vorschriften steht die folgende Überlegung: Da sich der Gesetzgeber insbesondere im Umwelt- und Sozialbereich angesichts des zu erwartenden Widerstands der “vertikalen Fachbruderschaften” nicht in der Lage sieht, einmal normierte kommunalbelastende Standards in einem Zug zurückzuführen, ermöglicht er es mit der neuen Regelungstechnik zunächst dem jeweiligen Innenministerium, fortschrittswilligen Kommunen einen Dispens zu erteilen. Wegen der damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Bedenken hat Hessen ebenso wie andere Bundesländer (vgl. z.B. Drs. 2/10591 des Sächsischen Landtags vom 20.4.1999, S. 43; Gutachten des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes Schleswig-Holstein (§ 25 a LVwG). In Hessen wurde 1997 dem Landrat als Behörde der Landesverwaltung durch die Novellierung des § 55 Abs. 8 HKO die Aufgabenverschiebung auf eine niedrigere Verwaltungsstufe (kreisangehörigen Gemeinden) lediglichbeim Niedersächsischen Landtag vom 16.2.1996 = Vorlage 50 zu Drs 13/1450) die Einführung eines Standardbefreiungsgesetzes zu Gunsten der Kommunen (und der Wirtschaft) bisher abgelehnt. In der Praxis wird in diesem Zusammenhang übrigens oft zum Zwecke der Verharmlosung von “Standardöffnung” oder gar “Standardanpassung” gesprochen. 

Große Skepsis besteht daher auch gegen eine allgemeine Experimentierklausel, die es den Landkreisen erlaubt, eine ihnen spezialgesetzlich zugewiesene Zuständigkeit zur Erledigung einer bestimmten Aufgabe durch Vertrag mit Zustimmung des Innenministeriums auf zur
Übernahme bereite kreisangehörige Gemeinde zu verschieben. Eine solche allgemeine Erlaubnis zur vertikalen Verschiebung einer gesetzlichen Zuständigkeitszuweisung (Flexibilisierungsklausel) gibt es bisher nur in
Schleswig-Holstein (§ 25 a LVwG). In Hessen wurde 1997 dem Landrat als Behörde der Landesverwaltung durch die Novellierung des § 55 Abs. 8 HKO die Aufgabenverschiebung auf eine niedrigere Verwaltungsstufe (kreisangehörigen Gemeinden) lediglich in Form der Aufgabenmandatierung erlaubt (Verlagerung der Aufgabendurchführung ohne Zuständigkeits- und Verantwortungswechsel). 

Zum Schluss seiner Untersuchung kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass vor allem die rechtswissenschaftliche Diskussion gefragt ist, um die zur Zeit noch bestehenden verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Unsicherheiten im Zusammenhang mit Experimentierklauseln zu minimieren. Sein Buch (mit umfangreichem Literatur- und Sachwortverzeichnis) leistet hierzu einen wertvollen Beitrag; von daher ist es nur allzu verständlich, dass die Veröffentlichung vom Bundesinnenministerium bezuschusst wurde. Mit dem Autor teile ich die Auffassung, dass der Einsatz und die Formulierung von Experimentierklauseln zukünftig sorgfältiger vorbereitet werden müssen, wenn es nicht bei einer oberflächlichen Modeerscheinung bleiben soll. Wird diese Voraussetzung erfüllt, so sind Experimentierklauseln allerdings – so das Fazit der hier anzuzeigenden Arbeit - ein wertvolles Instrument, um Reformprozesse innerhalb der Verwaltung auszulösen und das Recht zu optimieren.

 

Ministerialrat Ulrich Dreßler

© Ulrich Dressler, 30.05.2002