B u c h b e s p r e c h u n g (veröffentlicht in StAnz. 2002 S. 3591) 

Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung.

Von Bert Schaffarzik. (Band 14 der Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht)
Kart., 794 S., 74,- €. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart, 2002. ISBN 3-415-02934-4.  

Seite Ende Februar 2002 läuft - von der Öffentlichkeit bislang kaum beachtet - das vielleicht wichtigste Reformprojekt der Europäischen Union. Der Europäische Rat - die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedsstaaten sowie des Präsidenten der Europäischen Kommission - hat einen Konvent eingesetzt, der Antworten entwerfen soll auf die Fragen der Zukunft der Europäischen Union. Vorbildgebend war die Tätigkeit des Konvents zur Erarbeitung einer EU-Charta der Grundrechte. Unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Prof. Dr. Roman Herzog erarbeitete dieser Konvent binnen eines Jahres einen europäischen Grundrechtekatalog, der zwar nur als politische Erklärung proklamiert wurde, zwischenzeitlich aber bereits verbindlich Eingang in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gefunden hat. 

Der EU-Konvent zur Zukunft Europas setzt sich aus Vertretern des Europäischen Parlaments, der Regierungen der Mitgliedsstaaten und der nationalen Parlamente zusammen. Schon im Frühjahr 2003 soll er seine Vorstellungen für eine Reform der EU vorlegen. Im Kern geht es um nichts Geringeres als die Erarbeitung eines europäischen Grundlagenvertrages mit verfassungsmäßigem Charakter. Somit stellt sich auch die Frage der zukünftigen Rolle der Kommunen in Europa. An erster Stelle der Erwartungen und Forderungen der deutschen Kommunen an den EU-Konvent steht naturgemäß die Verankerung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts in einem europäischen Grundlagentext. Dementsprechend hat der Rat der Gemeinden und Regionen Europas  (auf Englisch: Council of European Municipalities and Regions = CEMR, deutsche Sektion = RGRE) dem Konvent bei der kürzlichen Anhörung vom 25.6.2002 vorgeschlagen, die  Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15.10.1985 in einen künftigen Verfassungsvertrag aufzunehmen, um sich gegenüber künftigen Eingriffen in die Autonomie der Kommunen durch Organe der EU, insbesondere durch die EU-Kommission, unmittelbar zur Wehr setzen zu können. 

Das hier anzuzeigende Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung wurde also zum „richtigen Zeitpunkt“ veröffentlicht. Es ist aus einer mit dem Förderpreis der Kieler Doctores Iuris im Jahr 2000 ausgezeichneten Dissertation hervorgegangen. Gegenüber der Dissertation wurde das Buch noch erweitert und aktualisiert.  

Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung vom 15.10.1985 ist kein Rechtsakt der Europäischen Union; sie stammt vielmehr von einer wesentlich älteren, wenn auch weniger bedeutenden Organisation, dem Europarat mit Sitz in Straßburg. Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Charta der kommunalen Selbstverwaltung das wohl wichtigste Arbeitsergebnis des Europarats. Dem Europarat gehören derzeit 44 Mitgliedsstaaten an; nahezu alle Mitgliedsstaaten haben die Charta unterzeichnet und ratifiziert. Das gilt auch für die Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten der Europäischen Union; völkerrechtlich nicht verbindlich - mangels Ratifizierung - ist sie lediglich für Frankreich, Belgien und Irland. Der Bundestag hat das Ratifizierungsgesetz am 10.12.1986 beschlossen (BGBl. II S. 65); da dann aber noch das Einverständnis der Bundesländer nach dem sog. „Lindauer Abkommen“ (bei Staatsverträgen, die nach Auffassung der Länder ihre ausschließliche Kompetenz berühren) eingeholt wurde, erfolgte die Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde aber erst am 17.5.1988. Am 1.9.1988 wurde die Charta für 6 europäische Staaten, unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland, völkerrechtlich verbindlich im Umgang mit ihren kommunalen Gebietskörperschaften. 

Dem Autor kommt das Verdienst zu, die 18 Artikel umfassende Europäische Kommunalcharta (EKC) erstmalig systematisch analysiert und auf ihre Praxisrelevanz in Deutschland und in der Europäischen Union untersucht zu haben. Das Werk ist in vier Teile untergliedert. Der erste Teil behandelt die Entstehungsgeschichte der EKC. Der zweite Teil stellt ihre zentralen „Regelungsgehalte“ und die völkerrechtlichen Sicherungen ihrer Einhaltung dar. Der dritte und längste Teil beschäftigt sich mit der Wirksamkeit der EKC im Bund und in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Für die Bundesrepublik Deutschland hat sich aus der Charta kein legislatorischer Handlungsbedarf ergeben. Jedoch kommt ihr in Deutschland neben der Funktion als Auslegungshilfe, als Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Garantien der kommunalen Selbstverwaltung, praktische Bedeutung insbesondere als Sperre gegen zukünftige die Selbstverwaltung einschränkende Gesetze zu. Das gilt insbesondere für Landesgesetze, denn die völkerrechtliche Vereinbarung gilt, wie der Autor ausführt, im deutschen Recht - dem Rang ihres Einführungsakts entsprechend - als einfaches Bundesgesetz. Bereits am 10.11.1987 gab im rheinland-pfälzischen Landtag der Minister für Bundesangelegenheiten den Abgeordneten folgenden Hinweis: „Es ist richtig, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keines der Gesetze, die bei uns die kommunale Selbstverwaltung regeln, geändert werden muss. Aber jede künftige Gesetzgebung im rheinland-pfälzischen Landtag, die sich mit der kommunalen Selbstverwaltung befasst, muss sich an den in der Charta niedergelegten Grundsätzen messen lassen.“ 

Von hoher Aktualität ist für die Gemeinden und Landkreise wegen der Finanznot in den öffentlichen Kassen insbesondere der längste Artikel der Charta über die „Finanzmittel der kommunalen Gebietskörperschaften“ (Art. 9). Art. 9 Abs. 2 EKC präzisiert das Konnexitätsprinzip, das die Ausgabeverantwortung an die Aufgabenverantwortung knüpft. Das in Art. 104 a Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 5 GG ausdrücklich nur für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern festgelegte Konnexitätsprinzip ist deshalb von Völkerrechts wegen auf das Verhältnis zwischen dem Staat (dem Land) und den Kommunen entsprechend anzuwenden. Dies ist für die hessischen Kommunen von besonderem Interesse, denn noch ist das Konnexitätsprinzip nicht in die Landesverfassung aufgenommen, und wenn dies nach dem Ergebnis der Volksabstimmung am 22.9.2002 erfolgen sollte, wird der Wortlaut des neuen Art. 137 Abs. 6 HVerf. jedenfalls in hohem Maße auslegungsbedürftig sein. Ohne Parallele im innerstaatlichen Recht ist auch die für den Staat im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs geltende Vorgabe aus Art. 9 Abs. 7 S. 1 EKC, nach der die Höhe der allgemeinen, von den Kommunen frei verausgabbaren Finanzzuweisungen diejenigen der Zweckzuweisungen übersteigen muss. Im Übrigen genießen die Kommunen nach Art. 9 Abs. 6 EKC in Bezug auf den kommunalen Finanzausgleich ein Recht auf Durchführung von Verhandlungen mit dem zum Finanzausgleich verpflichteten Staat (Land). 

Im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde bildet die Charta indirekt einen Entscheidungsmaßstab, indem sie die Bestimmungen der Landesverfassung und des Grundgesetzes wegen des Gebots der völkerrechtskonformen Auslegung mit ihren Schutzgehalten auflädt. Soweit sie über die verfassungsrechtlichen Normen definitiv inhaltlich hinausgeht, lässt sie sich in Verbindung mit dem Willkürverbot als Prüfungsmaßstab instrumentalisieren. Nur gegenüber förmlichen Bundesgesetzes versagt sie insoweit als gleichrangige lex prior. Darüber hinaus ist der Europarat selbst berechtigt, die Einhaltung der EKC durch die Vertragsstaaten - auch anlässlich einer kommunalen Beschwerde - zu überwachen; die Letztentscheidung liegt insofern beim Ministerkomitee, also bei den Außenministern der Mitgliedsstaaten. 

Der vierte Teil ist der Wirksamkeit der EKC in der Rechtsordnung der Europäischen Union gewidmet. Hier kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Europäische Union bereits jetzt an die Bestimmungen der Charta gebunden sei; diese sind nach seiner Ansicht nämlich als allgemeine Rechtsgrundsätze Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Dass im Ausschuss der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften der EU von den 24 auf Deutschland entfallenden Sitzen nur 3 für die Kommunen reserviert sind, wird daher folgerichtig als Verletzung des Art. 263 Abs. 1 EGV kritisiert. 

Es folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung in 31 Leitsätzen. In einem Anhang sind die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, das Bundesgesetz vom 22.1.1987 sowie begleitende Vorschriften abgedruckt. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein detailliertes Sachregister komplettieren das Werk. 

Dem Autor ist es gelungen, eine schwierige und komplexe Materie umfassend, aber dennoch verständlich und zielorientiert darzustellen. Das Werk ist tief gegliedert, der Aufbau ist stringent. Besonders zu loben ist auch der günstige Preis für dieses fast 800 Seiten „monumentale“ Werk.

Ministerialrat Ulrich Dreßler

© Ulrich Dressler, 18.08.2010